Die Kirche vom 15. November 1998
Ein Älterer Mann bricht zu Hause zusammen. Rettungssanitäter und Notarzt können ihm nicht mehr helfen. Ihnen bleibt nur die schwere Aufgabe, der Ehefrau den Tod mitzuteilen. Plötzlich hat der Notarzt einen nächsten Einsatz, und die beiden Sanitäter sind allein mit der Frau. Sie fühlen sich unsicher und hilflos, sind fast erleichtert, als auch sie auch wieder zu einem Einsatz fahren müssen.
"Nach dreißig Jahren Ehe plötzlich allein - stellen Sie sich das vor. Die Frau war völlig aufgelöst, und es war wirklich niemand da, der bei ihr bleiben konnte", erzählt einer der beiden, DRK-Rettungsassistent Patrick Marsollek.
"Das hat uns so belastet und berührt, daß wir uns gedacht haben, so kann das nicht laufen, da muß es etwas geben." Sie gründeten mit zunächst vier Leuten eine Arbeitsgruppe Krisenintervention für ihren damaligen Standort Biesenthal. Doch bald kamen Anfragen aus dem ganzen Rettungsbereich Bernau, und die Gruppe konnte ihre selbst vorgebene Anfahrtszeit von 30 Minuten nicht mehr einhalten. "Man kann die Einsatzkräfte nicht ewig warten lassen" , ergänzt der zweite "Gründervater" Babak Manssouri, der heute Psychologie studiert. Die beiden entschlossen sich, einen richtigen Kriseninterventionsdienst einzurichten mit dem Ziel, eine kostenfreie Akutbetreuung anzubieten. Sie reisten kreuz und quer durch Deutschland, besuchten Bundeskongresse zur Notfallsselsorge und holten sich Tips zu Aufbau und Organisation bei bereits bestehenden Diensten. Sie tingelten durch evangelische und katholische Kirchengemeinden, stellten ihr Projekt vor und warben Mitarbeiter.
Das ist ihnen mit erheblichem Einsatz privater Mittel und noch mehr Einsatz von freier Zeit gelungen. Heute stehen dem Dienst, der am 3. November ein Jahr besteht, für Niederbarnim (Bernau, Seefeld, Zerpenschleuse, Wandlitz und Biesenthal) 18 ehrenamtliche Mitarbeiter zur Verfügung. Seit dem 5. Oktober arbeiten weitere acht Krisenhelfer im Oberbarnim (Eberswalde und Joachimsthal) mit. Inzwischen brauchen sie sich auch über die Finanzierung keine Sorgen mehr zu machen, denn seit dem 1. September hat der Caritas-Verband für Brandenburg die Trägerschaft übernommen.
"Das ist schon eine große Beruhigung" , freut sich Marsollek. "Obwohl die beiden Kirchen uns mit Kollekten unterstützt haben und wir die Handies gratis zur Verfügung gestellt bekommen, fallen doch ständig Weiterbildungs- und Fahrtkosten an. Inzwischen, berichtet Paul Banasiak von der Caritas Eberswalde, habe der Dienst nach über 50 Einsätzen auch einen sehr guten Ruf und werde sogar von der Polizeipräsidentin Uta Leichsenring unterstützt.
Sieben Tage rund um die Uhr haben die einzelnen Betreuer, unter ihnen Sozialarbeiter, Pfarrer der evangelischen und katholischen Kirche, Rettungsdienstler und Krankenschwestern, Dienst. Durchschnittlich werden sie in dieser Zeit zweimal gerufen.
"In den ersten Einsatzwochen habe ich nachts schlecht geschlafen", erinnert sich Pfarrerin Ilona Kretzschmar-Schmidt aus Basdorf. Aber mittlerweile habe sie sich daran gewöhnt und auch ihre Kinder wissen, "es kann sein, daß Mutti morgens mal nicht da ist, dann müssen sie allein aufstehen und zur Schule gehen" . Die Sachen zum Reinschlüpfen und der Dienstrucksack, der neben wichtigen Adressen und Rufnummern, Kartenmaterial, Erste-Hilfe-Ausrüstung, Kaugummis und Zigaretten, auch ein Kuscheltier für Kinder enthält, liegen immer griffbereit.
Die Helfer betreuen Angehörige nach Unfällen, Gewalt- und Katastrophenopfer oder Eltern bei Kindernotfällen. Sie überbringen Todesnachrichten und sind auch in psychisch belastenden Situationen für Feuerwehrleute, Polizisten, Rettungshelfer oder bei Überfällen für Bankangestellte und -kunden da. Ziel so eines Einsatzes sei es, so Manssouri, "durch Gespräche und Zuhören den Betroffenen seelischen Beistand zu geben, so daß sie mit ihren Gefühlen und Ängsten nicht alleine sind, sondern jemanden um sich haben, der ihnen Halt gibt". In sehr vielen Fällen, zu denen sie und ihre Mitstreiter gerufen werden, geht es um Selbstmord und Selbstmordversuche, erzählt die Pfarrerin. Wenn dann mit mehreren Familienangehörigen gesprochen werden müsse, fahren sie auch zu zweit. "Wir haben einen Hintergrunddienst, der von zwei Krankenschwestern abgedeckt wird. Denn es kann ja mal passieren, daß ich gerade eine Beerdigung habe und nicht weg kann. Dann springt das Handy automatisch auf eine zweite Person um", erklärt Pfarrerin Kretzschmar-Schmidt. Natürlich wird jeder gefragt, ob er möchte, daß jemand zu einem Gespräch kommt. "Manche Menschen" , berichtet sie weiter, "sagen mir, wenn ich mich als Pastorin vorstelle, sie hätten aber mit der Kirche nichts am Hut. Dann sage ich ihnen, daß das völlig egal ist. Ich komme als Mensch, der helfen will."
Sie weiß, daß es oft schon reicht, wenn nur jemand da ist, der zuhört. "Weinen, den Schmerz zulassen, das ist ganz wichtig für den Trauernden." Immer wieder hört sie nach Unglücksfällen die Frage: "Warum mußte das jetzt gerade mir passieren?" Hier hilft kein billiger Trost, meint sie. "Wir tun nicht so, als könnten wir die Frage nach dem Warum beantworten." Oft geht es aber auch um ganz praktische Dinge. "Wir helfen den Leuten, die nächsten Schritte einzuleiten. Sie stehen ja unter Schock und sind in der Situation überfordert" , berichtet Manssouri und ergänzt: "Wenn möglich, bleiben wir, bis wir die Menschen bei Verwandten, Nachbarn oder professionellen Helfern in guten Händen wissen, bis eben alles geregelt ist."
Auch die Helfer brauchen Hilfe, um den besonderen seelischen Belastungen gewachsen zu sein. Regelmäßig tauschen sie deshalb in Einsatznachbesprechungen Erfahrungen aus, und um seelischen Druck abzubauen, steht eine erfahrene Supervisorin ebenfalls ehrenamtlich zur Verfügung. Für mehr Sicherheit sorgen regelmäßige theoretische und praktische Weiterbildungen, wie Fahrten mit dem Notarztwagen. "Klar sind wir froh über noch mehr Leute, die mitmachen wollen" , sagt Marsollek. Doch nicht jeder könne unabhängig vom Arbeitgeber über seine Zeit verfügen, wie es für den Dienst erforderlich sei. Außerdem genüge Mitleid allein nicht, meint Ilona Kretzschmar-Schmidt, "man sollte schon über eine einschlägige Vorbildung verfügen und gelernt haben, mit Leid und Trauer umzugehen." Für Marsollek ist die Grundeinstellung das Wichtigste. "Eine super Weiterbildung nützt nichts, wenn die positive Einstellung zum Menschen fehlt" , ist seine Meinung. "Ich kann nur helfen, wenn ich Interesse für den anderen habe und dies auch zeigen kann." Eines aber begeistert beide gleichermaßen: "Wir sind ein Modellfall dafücr, wie man über die Grenzen von Weltanschauungen und Religionen zusammenarbeiten kann!"
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Der "Kriseninterventionsdienst und Notfallseelsorge in Barnim" ist ein Angebot für Menschen in Krisensituationen. Er ist als menschliche erste Hilfe über die Rettungsleitstelle Barnim rund um die Uhr erreichbar. Er wendet sich an alle, die mit belastenden und extremen Situationen zu tun haben: Ob als Opfer, Angehöriger oder als Helfer.
Kontakt: Birkenstr. 5, 10559 Berlin. Spenden sind möglich über den Caritas-Verband für Brandenburg in Eberswalde, Konto 0080025130 bei der Berliner Volksbank, BLZ 100 900 00, Stichwort KID Barnim.
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